Wie unser Unfallbild zeigt, kippte die Lastwagenkabine nicht nur nach
vorne, sondern knallte vollends auf die Strasse. Der angegurtete
Lastwagenchauffeur überstand den spektakulären Unfall völlig unversehrt.
Eigentlich unmöglich
Swissmotor recherchierte über das Ereignis, denn auch wir fragten
uns, wie es geschehen kann, dass sich eine Fahrerkabine durch ein
blosses Bremsmanöver aus der mechanischen Verriegelung losreissen kann.
Gemäss unserem Kenntnisstand kann sie es eigentlich nicht, denn es sind
mehrere Verriegelungen, die ein ungewolltes Abkippen nach vorne
verhindern.
Oder doch nicht?
Anderseits hatte der Schreibende schon selbst beobachtet, wie die
Kabine eines Mercedes-Lastwagens auf der Gegenfahrbahn bei einer etwas
heftigen Bremsung nach vorne abkippte. Damals sauste sogar der Fahrer
mit einem filmreifen Salto durch die Windschutzscheibe, die durch
allerlei fliegende Gegenstände in der Kabine in Stücke ging. Auch
anlässlich von Instruktionskursen war der Verfasser Augenzeuge, wie
Kabinen unplanmässig nach vorne kippten.
Nicht ganz idiotensicher
Bei den bisherigen Kippkabinen musste zunächst die mechanische
Verriegelung ausgeklinkt werden, bevor der hydraulische
Pumpenmechanismus die Kabine anheben konnte. Fehlmanipulationen mit
teilweise gewaltigen Folgekosten waren jedoch möglich. In modernen
Kippkabinen geschieht das mechanische Ausklinken automatisch durch
Betätigung der Hydraulikpumpe.
Beim Militärfahrzeug Bucher DURO beispielweise geschieht das Kippen des
Fahrerhauses durch Federdruck – und klappt nur problemlos auf ebenem
Terrain. Muss das Anheben der Kabine in steilem Gelände erfolgen, ist
Ärger angesagt, weil sie (bergab) durch die Schwerkraft vehement in den
Endanschlag knallt, oder (bergauf) mehrere starke Männer zum Anheben
benötigt, aber als Gegenleistung um so schneller heruntersaust. Wehe
dem, der sich nicht rasch genug in Sicherheit bringen kann.
Vor- und Nachteile einer soliden Sicherheitskabine
Auf Einladung der Hächler AG, Nutzfahrzeuge in Othmarsingen (übrigens
ein echter Vorzeigebetrieb!) erfolgte eine intensive Begutachtung des
verunfallten Scania-Sattelschleppers vor Ort. Der zweijährige Lastwagen
ist ein Totalschaden. Es bedurfte keiner detektivischen Fähigkeiten beim
Schreibenden, um das Rätsel zu lösen. Die erfolgten Zerstörungen
sprechen eine deutliche Sprache.
Durch den Aufprall auf den vorausfahrenden Kipper wurde die Kabine des
Scania rechts regelrecht aufgeschlitzt und seitlich verdreht. Dadurch
scherte es die mechanischen Verriegelungen der Kabine ab. Auch die
vordere Kabinenaufhängung, der Drehpunkt zum Abkippen also, ist
weggebrochen. Hubzylinder und die Kipp-Arretierung sind ebenfalls
abgerissen, was dann zum völligen Abkippen des Fahrerhauses führte – und
das Bild der auf der Strasse liegenden Fahrerkabine erklärt.
Farbspuren belegen der Unfallhergang
Nicht korrekt war dagegen die Polizeimeldung, worin es hiess, die
allein durch die Vollbremsung abkippende Kabine habe den Personenwagen
flachgedrückt. Tatsächlich prallte der Scania-Sattelschlepper zunächst
diagonal mit grosser Wucht gegen die scharfkantige Kippmulde des
vorausfahrenden Renault. Dieser Aufprall bewirkte das seitliche
Verdrehen und anschliessende Abscheren der Sicherheitskabine aus den
Verankerungen. Der entgegenkommende Personenwagen streifte zunächst das
vordere Trittbrett des Lastwagens und wurde anschliessend noch von der
seitlich abkippenden Kabine erwischt. Die Farbspuren am Lastwagen
belegen dies überdeutlich. Das ist auch der Grund, warum der
Personenwagen danach noch 50 Meter weiterrollen konnte.
Schwachstellen
Swissmotor entdeckte als eigentliche Schwachstelle die hinteren – und
teilweise auch die vorderen mechanischen Verriegelungen und Drehpunkte
der Kabine. Diese sind lediglich auf Zugkraft ausgelegt, nicht auf
plötzliche, starke seitliche Verschiebungen der Kabine. Durch
zusätzliche Sicherungs-Stahlseile oder Gurten, was leider bis dato kein
einziger Hersteller anordnet, könnten derartige Vorkommnisse ein für
allemal nachhaltig vermieden werden.
Möglicherweise ist Scania absichtlich dieses Risiko eingegangen, denn
anderseits retteten auch abgescherte Fahrerhäuser in der Vergangenheit
Menschenleben (vom Verfasser ebenfalls live erlebt). Hätte es die
Kabinen nicht weggerissen, wären die Insassen zerquetscht worden. Es ist
das alte Lied. Die ultimate Sicherheit gibt es nicht. Wo immer man
konstruktiv auf grösstmögliche Sicherheit geht, entstehen fast
zwangsläufig neue Risikofaktoren. Dem Konstrukteur – oder dem
Gesetzgeber - obliegt dann die Wahl und Entscheidung, welchem Faktor –
oder Philosophie - er den Vorzug geben will, beziehungsweise welches
Restrisiko er in Kauf nimmt.
Unbegreiflich dagegen ist es, dass etliche Lastwagenhersteller auf ein
unüberseh-, und unüberhörbares Warnsignal verzichten, welches den Fahrer
bei nicht einwandfrei verriegelter Kabine auf die Gefahr aufmerksam
macht, sobald sich der Wagen in Bewegung setzt.
Tödliche Geschosse
Vorwiegend Fernfahrer führen oftmals einen ganzen Hausrat in ihren
Fahrerhäusern spazieren. Kaum einer ist sich der mörderischen Gefahr
bewusst, dass sich diese (Gebrauchs)Gegenstände bei einem Unfall in
absolut tödliche Geschosse verwandeln. So stammen die Einschüsse in der
Windschutzscheibe des Scania bezeichnenderweise nicht vom Aufprall der
Kabine auf den Kipper und die Strasse, sondern von einer mitgeführten
Politurblechbüchse und allerlei Kleingegenständen. Hätte ein einziger
Gegenstand den Fahrer getroffen, wäre er kaum dermassen unversehrt aus
der zu Boden geknallten Kabine entstiegen. Sogar den solide befestigten
Feuerlöscher hatte es zur Hälfte aus der Verankerung gerissen.
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Das Unfallbild
Die durch den Aufprall auf den vorausfahrenden Kipper aufgeschlitzte
Kabine.
Abgebrochene (rechtsseitige) vordere Kabinenaufhängung (Drehpunkt).
Der Aufprall auf den vorausfahrenden Kipper muss gewaltig gewesen sein.
Hier hat die seitlich abkippende Kabine den Personenwagen erwischt.
Abgebrochene Gussteile zuhauf.
Die sauber abgescherte hintere Fahrerhaus-Arretierung.
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