So was sollte nicht passieren

Bilder und Text: Ruedi Baumann

BPZ / Polizeimeldung Kanton Aargau: Ein Scania-Sattelschlepper mit Muldenauflieger musste am Dienstag, 19. Juni 2007 wegen eines vorausfahrenden, anderen Lastwagens, einem 8x4 Renault-Kipper, ebenfalls mit Kippmulde, auf der Ausserortstrasse Richtung Wöschnau stark abbremsen. Gleichzeitig wollte der Fahrer noch nach links ausweichen. Dabei kippte die Fahrerkabine des bremsenden Sattelschleppers nach vorne und prallte auf ein entgegenkommendes Auto. Der Personenwagen rollte indessen noch ein Stück weiter und kollidierte schliesslich mit einem weiteren Auto, das in Richtung Wöschnau fuhr. Die Lenkerin des Personenwagens wurde verletzt ins Spital gebracht.

Wie unser Unfallbild zeigt, kippte die Lastwagenkabine nicht nur nach vorne, sondern knallte vollends auf die Strasse. Der angegurtete Lastwagenchauffeur überstand den spektakulären Unfall völlig unversehrt.

Eigentlich unmöglich

Swissmotor recherchierte über das Ereignis, denn auch wir fragten uns, wie es geschehen kann, dass sich eine Fahrerkabine durch ein blosses Bremsmanöver aus der mechanischen Verriegelung losreissen kann. Gemäss unserem Kenntnisstand kann sie es eigentlich nicht, denn es sind mehrere Verriegelungen, die ein ungewolltes Abkippen nach vorne verhindern.

Oder doch nicht?

Anderseits hatte der Schreibende schon selbst beobachtet, wie die Kabine eines Mercedes-Lastwagens auf der Gegenfahrbahn bei einer etwas heftigen Bremsung nach vorne abkippte. Damals sauste sogar der Fahrer mit einem filmreifen Salto durch die Windschutzscheibe, die durch allerlei fliegende Gegenstände in der Kabine in Stücke ging. Auch anlässlich von Instruktionskursen war der Verfasser Augenzeuge, wie Kabinen unplanmässig nach vorne kippten.

Nicht ganz idiotensicher

Bei den bisherigen Kippkabinen musste zunächst die mechanische Verriegelung ausgeklinkt werden, bevor der hydraulische Pumpenmechanismus die Kabine anheben konnte. Fehlmanipulationen mit teilweise gewaltigen Folgekosten waren jedoch möglich. In modernen Kippkabinen geschieht das mechanische Ausklinken automatisch durch Betätigung der Hydraulikpumpe.

Beim Militärfahrzeug Bucher DURO beispielweise geschieht das Kippen des Fahrerhauses durch Federdruck – und klappt nur problemlos auf ebenem Terrain. Muss das Anheben der Kabine in steilem Gelände erfolgen, ist Ärger angesagt, weil sie (bergab) durch die Schwerkraft vehement in den Endanschlag knallt, oder (bergauf) mehrere starke Männer zum Anheben benötigt, aber als Gegenleistung um so schneller heruntersaust. Wehe dem, der sich nicht rasch genug in Sicherheit bringen kann.

Vor- und Nachteile einer soliden Sicherheitskabine

Auf Einladung der Hächler AG, Nutzfahrzeuge in Othmarsingen (übrigens ein echter Vorzeigebetrieb!) erfolgte eine intensive Begutachtung des verunfallten Scania-Sattelschleppers vor Ort. Der zweijährige Lastwagen ist ein Totalschaden. Es bedurfte keiner detektivischen Fähigkeiten beim Schreibenden, um das Rätsel zu lösen. Die erfolgten Zerstörungen sprechen eine deutliche Sprache.

Durch den Aufprall auf den vorausfahrenden Kipper wurde die Kabine des Scania rechts regelrecht aufgeschlitzt und seitlich verdreht. Dadurch scherte es die mechanischen Verriegelungen der Kabine ab. Auch die vordere Kabinenaufhängung, der Drehpunkt zum Abkippen also, ist weggebrochen. Hubzylinder und die Kipp-Arretierung sind ebenfalls abgerissen, was dann zum völligen Abkippen des Fahrerhauses führte – und das Bild der auf der Strasse liegenden Fahrerkabine erklärt.

Farbspuren belegen der Unfallhergang

Nicht korrekt war dagegen die Polizeimeldung, worin es hiess, die allein durch die Vollbremsung abkippende Kabine habe den Personenwagen flachgedrückt. Tatsächlich prallte der Scania-Sattelschlepper zunächst diagonal mit grosser Wucht gegen die scharfkantige Kippmulde des vorausfahrenden Renault. Dieser Aufprall bewirkte das seitliche Verdrehen und anschliessende Abscheren der Sicherheitskabine aus den Verankerungen. Der entgegenkommende Personenwagen streifte zunächst das vordere Trittbrett des Lastwagens und wurde anschliessend noch von der seitlich abkippenden Kabine erwischt. Die Farbspuren am Lastwagen belegen dies überdeutlich. Das ist auch der Grund, warum der Personenwagen danach noch 50 Meter weiterrollen konnte.

Schwachstellen

Swissmotor entdeckte als eigentliche Schwachstelle die hinteren – und teilweise auch die vorderen mechanischen Verriegelungen und Drehpunkte der Kabine. Diese sind lediglich auf Zugkraft ausgelegt, nicht auf plötzliche, starke seitliche Verschiebungen der Kabine. Durch zusätzliche Sicherungs-Stahlseile oder Gurten, was leider bis dato kein einziger Hersteller anordnet, könnten derartige Vorkommnisse ein für allemal nachhaltig vermieden werden.

Möglicherweise ist Scania absichtlich dieses Risiko eingegangen, denn anderseits retteten auch abgescherte Fahrerhäuser in der Vergangenheit Menschenleben (vom Verfasser ebenfalls live erlebt). Hätte es die Kabinen nicht weggerissen, wären die Insassen zerquetscht worden. Es ist das alte Lied. Die ultimate Sicherheit gibt es nicht. Wo immer man konstruktiv auf grösstmögliche Sicherheit geht, entstehen fast zwangsläufig neue Risikofaktoren. Dem Konstrukteur – oder dem Gesetzgeber - obliegt dann die Wahl und Entscheidung, welchem Faktor – oder Philosophie - er den Vorzug geben will, beziehungsweise welches Restrisiko er in Kauf nimmt.

Unbegreiflich dagegen ist es, dass etliche Lastwagenhersteller auf ein unüberseh-, und unüberhörbares Warnsignal verzichten, welches den Fahrer bei nicht einwandfrei verriegelter Kabine auf die Gefahr aufmerksam macht, sobald sich der Wagen in Bewegung setzt.

Tödliche Geschosse

Vorwiegend Fernfahrer führen oftmals einen ganzen Hausrat in ihren Fahrerhäusern spazieren. Kaum einer ist sich der mörderischen Gefahr bewusst, dass sich diese (Gebrauchs)Gegenstände bei einem Unfall in absolut tödliche Geschosse verwandeln. So stammen die Einschüsse in der Windschutzscheibe des Scania bezeichnenderweise nicht vom Aufprall der Kabine auf den Kipper und die Strasse, sondern von einer mitgeführten Politurblechbüchse und allerlei Kleingegenständen. Hätte ein einziger Gegenstand den Fahrer getroffen, wäre er kaum dermassen unversehrt aus der zu Boden geknallten Kabine entstiegen. Sogar den solide befestigten Feuerlöscher hatte es zur Hälfte aus der Verankerung gerissen.


Das Unfallbild


Die durch den Aufprall auf den vorausfahrenden Kipper aufgeschlitzte Kabine.


Abgebrochene (rechtsseitige) vordere Kabinenaufhängung (Drehpunkt).


Der Aufprall auf den vorausfahrenden Kipper muss gewaltig gewesen sein.


Hier hat die seitlich abkippende Kabine den Personenwagen erwischt.


Abgebrochene Gussteile zuhauf.


Die sauber abgescherte hintere Fahrerhaus-Arretierung.


Durch den Schwung riss es die Verankerung der Kipp-Begrenzung ab.


 


Aber auch der Unterbau hat was abbekommen.



 


Das erklärt, warum der Polizeibericht nicht stimmt: Nur die Kunststoff-Sonnenblende am Kabinendach ist lädiert. Wäre die Kabine voll auf den PW gekracht, würde es anders aussehen.


Die Felgenpolitur in der Büchse hat sich molekular in der Kabine verteilt. Hans Hächler kann nicht genug vor freiliegenden Gegenständen in den Fahrerkabinen warnen.


Die Einschüsse in der Windschutzscheibe stammen allesamt von kleinen Gegenständen in der Kabine. Nicht auszudenken, hätte ein einziger Gegenstand den Fahrer getroffen.

 

 


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